Innovation ist mehr als ein bisschen mehr technischer Fortschritt. Es geht um eine kulturelle und soziale Erneuerung, die Ideen den Platz gibt, der ihnen zusteht. Ohne Barrieren.
In seinem Jahrhundertwerk der “Allgemeinen Theorie” hat der Ökonom John Maynard Keynes geschrieben: “Die Schwierigkeit liegt nicht so sehr in den neuen Gedanken als in der Befreiung von den alten.”
Der Satz war nie richtiger als heute. Wir reden ständig über Innovation, um sie möglichst zu verhindern. Das kostet uns Kopf und Kragen.
Innovation ist die harte Währung der Wissensgesellschaft. Es ist Zeit, dieser Währung den Wert zuzuweisen, der ihr zusteht.
Das klingt einfacher, als es ist. Denn nichts wird mehr missverstanden als das Neue.
Und kaum ein anderer Begriff ist heute so wohlfeil wie jener der Innovation. Wir leben in Zeiten der Innovations-Inflation.
Inflationen entwerten – Materielles ebenso wie Geistiges. Das aber kann sich eine Gesellschaft, die von Wissen und Ideen lebt, nicht leisten. Und dies ist so eine Gesellschaft, ob unsere industriell bestimmte, mechanistische, etwas starrsinnige und rückwärtsgewandte Kultur das wahrhaben will oder nicht. Was soll man tun?
Erstens versuchen, die Innovation ernst zu nehmen und nicht als Sonderfall und als lästige Störung zu begreifen. Die Voraussetzung dafür ist, dass Veränderungen in unserer Kultur nicht mehr als Bedrohung gelten, sondern als Angebot, als Alternative zum Bestehenden. Innovationen sind das Leben, das wir noch vor uns haben. Und dieses Leben wird abwechslungsreicher, überraschender werden als das, was wir in den letzten drei, vier Jahrzehnten erlebt haben. Das fordert von jedem Einzelnen: Wir müssen lernen, uns zu entscheiden. Der Kern aller Innovation ist das Erkennen des Unterschieds und die Einlassung darauf. Es geht auch anders. So fängt es an.
Das muss man wollen, sich dafür entscheiden. So wie man wissen will, was man nicht mehr will. Die Erneuerung der Innovationsidee besteht vor allen Dingen darin, dass wir unsere Einstellung zum Neuen gründlich klären.
Das ist eine Kulturfrage.
Was ist das Neue, was könnte es sein?
Was ist das Neue, was könnte es sein? Was tun wir für die, die das Neue befördern, und für uns, damit wir zu jenen gehören, die das ebenfalls können? Ermöglichen wir Innovation – oder tun wir nur so? Dazu gehört auch ein kritischer – selbstkritischer – Geist. Ist alt immer schlechter als neu?
Gewiss: Wir müssen für das Neue streiten, für die Innovation in die Schlacht ziehen, keine Gelegenheit zum Scharmützel auslassen, aber nicht auf Kosten all dessen, was an Gutem und Richtigen in dieser Welt vorhanden ist. Eine selbstbewusste und neue Innovationskultur streitet für Erneuerer, aber nicht für jene, die Veränderung und Innovation nur als Vorwand benutzen, um Vorhandenes zu beseitigen – und sich, ohne jede Verbesserung für andere, an den warmen Ofen zu setzen.
Innovation ist etwas anderes als die Missinterpretation der Schumpeterschen “Schöpferischen Zerstörung” als “Survival of the fittest”. So haben das aber nicht nur Betriebswirte gelernt. Ein neues Innovationsverständnis braucht kritisches Zweifeln: Man soll dem Neuen einiges zutrauen, aber blind vertrauen muss man ihm nicht.
Es ist oft leichter, alles auf den Müll zu schmeißen und neu anzufangen, als Inventur zu machen, bei der man draufkommt, was fehlt – und was weg kann. Deshalb ist eine vernünftige, der Wissensgesellschaft entsprechende Innovationskultur immer eine, der daran gelegen ist, einen klaren Blick aufs Neue und Vorhandene zu haben.
Dafür muss man den Kult um das Neue, den es schon lange gibt, dekonstruieren.
Bei der Inventur fällt dann einiges auf: Vieles von dem, was heute als Neues verkauft wird, ist ohnehin ein alter Hut, eine Mischung aus Kopie, Rekombination und viel Marketing. Aber auch diese Entwicklung liegt, wie wir sehen werden, an der Kontinuität einer überkommenen Kultur, alter Denkmuster und Routinen, schlechter Angewohnheiten im Umgang mit Neuem und Überraschendem. Der Blick ist nach innen gerichtet. In Unternehmen und Politik, Peer-Groups und Familien bestimmt die Innensicht nahezu alles. Es riecht muffig, man hört nichts, und außerdem ist der Ausblick miserabel. Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen deshalb nicht mehr, weil wir vergessen haben, wie ein Wald aussieht.
Innovation wird zu einer Glaubenssache gemacht
Wir leben in Organisationen, die nicht für die Erneuerung gemacht sind. Wir benutzen Begriffe wie Quer- und Vordenker. Kaum jemand stellt sich die Frage, ob es für Unternehmen und Gesellschaften, die behaupten, innovativ zu sein, Innovatoren mit solchen Außenseiterbezeichnungen zu belegen. Bekenntnisse verändern nichts. Handeln verändert etwas. Aber das macht viel Arbeit.
Die so überhöhen die einen die Innovation und machen sie so zu einer Glaubenssache, die sie nicht ist. Innovation ist handfest, vielfach Handwerk, das etwas Glück gebrauchen kann, vor allen Dingen aber ist sie das Kind einer Kultur der Neugier, verbunden mit Geduld und Durchsetzungsvermögen. Innovatoren sind Unternehmer. Ihre Arbeit braucht Begeisterung, Ausdauer, Nüchternheit, Know-how, Leidenschaft, Pragmatismus, von allem reichlich. Das Neue kommt als Widerspruch zur “Normalität” zur Welt, und Widerspruch ist auch das Wesen der Innovation. Deshalb ist es nicht leicht, sofort den Unterschied zwischen Luftblase und Jahrhundertidee zu erkennen, den zwischen Querulanten und Innovator. Aber es gibt Sachen, die kann man erkennen, und wenn wir nur daran drehen, würde es der echten Innovation und ihren Innovatoren schon besser gehen. Fördert das Experiment, den Versuch, das Probieren – aber lasst die, die das tun, in Ruhe!
Was Innovation nicht braucht, sind Vormünder, die sie so schnell wie möglich in die alte Ordnung integrieren wollen. Das soll das Neue nur ruhigstellen. Es geht um Kontrolle aller Aus- und Nebenwirkungen der Innovation. Dabei werden zuweilen edle Motive vorgeschoben: Man wolle ja nur das Risiko kleinhalten, heißt es, verhindern, dass etwas geschieht, womit niemand rechnen kann. Damit verhindert man im Grunde genommen alles. Das Neue hat immer Risiken. Es lässt sich nicht vollständig berechnen. Innovationen, die sicher sind, sind gar keine. Sie werden nur so verkauft, ein Etikettenschwindel, der Chancen und Zukunft kostet.
Wohlstandsgesellschaften und ihre Bürger gehen ungern Risiken ein, sie haben etwas zu verlieren. Wer Innovation sagt, meint es oft nicht so. Weil viele dem Neuen grundsätzlich misstrauen, unseren Besitzstand aufs Spiel gesetzt sehen, setzen wir uns ungern damit auseinander.
Das wahre “Innovators Dilemma”, um Clayton M. Christensens berühmten Buchtitel aufzugreifen, ist es, dass sie immer stärker in ein Korsett der Kontrolle und des Sicherheitsdenkens gepresst werden. Das Dilemma der Innovatoren ist, dass ihre Erneuerungsarbeit stets mit altem Maß gemessen wird.
Das hat viel mit alten Gewohnheiten zu tun, mit dem Geist der alten mechanistischen Weltsicht, die die Ära der Industriegesellschaft so prägte. In der Wissensgesellschaft, die Innovationen als Normalfall kennt, kann man so nicht denken und arbeiten. Es braucht neue Kulturtechniken und neue Sichtweisen auf die Welt. Und manchmal auch eine andere Sprache als die, die wir im Zusammenhang mit Innovation benutzen. Denn sie führt uns oft in die Irre.
Ein Beispiel: Die Auseinandersetzung von Alt und Neu ist nicht zwangsläufig die zwischen Alt und Jung. Erneuerung, Innovation, Veränderung – das wird uns in unserer Kultur von jeher erzählt, sei stets der Kampf der Ungestümen, der Jungen, der Revolutionäre gegen die Alten, Verstockten, Unbelehrbaren. Das ist ein Mythos, den eine neue Innovationskultur beseitigen muss, nicht nur, weil der Rohstoff Erfahrung in der Wissensgesellschaft immer wichtiger ist. Eine Innovationskultur für die Wissensgesellschaft, die wirklich barrierefrei ist, ist eine inklusive Innovationskultur – oder gar keine. Sie nützt alle geistigen und kreativen Ressourcen.
Sie verbindet Erfahrung und Experiment.
Sie nimmt das Know-how, das persönliche Wissen, und verbindet es mit neuen Fragen und nachwachsenden Bedürfnissen. Innovation ist ein Prozess, der auf Gemeinsamkeiten, auf Austausch, auf Kooperation und Konsens beruht.
Transformation bedeutet schließlich Verwandlung – und nicht Vernichtung.
Jede kulturelle Innovation braucht auch soziale Erneuerungsimpulse. Ist es, beispielsweise, richtig, dass der Sozialstaat auf Regeln der Fabriksgesellschaft des 19. Jahrhunderts beruht? Glauben wir tatsächlich, dass mit einigen Reformen genug Innovation ins Spiel kommt, um mehr Mut in die Gesellschaft zu bringen, Veränderungen selbst zu denken und zu leben? Was fangen wir mit der Ahnung an, der Intuition, den Talenten, die nicht in die engen Korsetts der Betriebswirte und Managementmechaniker passen? Kann es eine Innovationsgesellschaft geben, in der die Rolle der Kreativen (im Sinne nach Lösungen strebender Kopfarbeiter) nach wie vor als Außenseiterposition definiert ist? Natürlich nicht.
Die Wissensgesellschaft dreht sich um den menschlichen Faktor, die Person, das Individuum. Es verlässt die Zone der Massenkultur. Für Deutschland, dessen kulturelle Identität stets mit Masse und Industrie verbunden war, werden die Lehrjahre besonders hart werden. Es gilt nicht nur die kulturelle Vorliebe zum Bestehenden zu überwinden. Es geht auch darum, das Innovationsgerede – das wahre Innovation verhindern soll – als den Neusprech zu entlarven, der er ist. Innovation entsteht nicht in Powerpoint-Präsentationen, in Seminaren, in langweiligen Meetings und anderen Absurditäten der Angestelltengesellschaft, sondern dort, wo Unternehmer arbeiten – ganz gleich, ob innerhalb einer Organisation oder außerhalb. Unternehmen im Sinne dieses Textes sind nicht Menschen, die einen Gewerbeschein für ihre Tätigkeit benötigen, sondern Selberdenker, Selbstermächtiger. Menschen, Talente und Ermöglicher. Wer Innovation nicht verhindern will, muss Menschen sich frei entwickeln lassen. Das ist die schwierigste Übung von allen, denn sie widerspricht allen Regeln, die bisher in Gemeinschaften galten. Es bedarf einer neuen Vertrauenskultur. Bisher genügt es uns, dass Menschen sich zu etwas entwickeln, das mehr oder weniger genau definiert ist, und wir halten es mit Problemlösungen genauso. Wenn wir lernen, unseren Blick nicht zu verengen, also über die Maße zu fokussieren, sondern zu öffnen, werden wir erkennen, was uns sonst noch umgibt. Es ist ein wenig so, wie wenn man nachts in den Sternenhimmel sieht. Wer verkniffen das kleine flackernde Pünktchen am Himmel fixiert, sieht wenig. Wir sehen am Rande der Pupille am besten. Dort liegen die Überraschungen.
Totale Kontrolle und totale Fixiertheit sind schlechte Umgebungen für Innovationen. Es sind die alten Mittel des Gewaltsamen, die hier in Anschlag gebracht werden. Sie gelten in kultureller Hinsicht seit jeher für alles, was sich mit dem Neuen und seinem Auftreten beschäftigt.
Wer Innovation zum Normalfall machen – und damit der Wissensgesellschaft gerecht werden will -, sollte nicht drohen, sondern überzeugen. Die Grundlage dafür ist das Verständnis unserer Vorstellung von Innovation. Was ist eine Idee, woher kommt der Mythos des Neuen, wie hat sich unser Bild von Innovation und Innovatoren entwickelt? Welche Archetypen der Innovation und der Erneuerer bestimmen unbewusst unsere Sicht auf das Thema?
Und wenn dann klar ist, wie das Neue wurde, was es ist – wo fängt dann die Erneuerung der Innovation an? Vielleicht mit Geduld.
Vielleicht mit Versöhnung und Ausgleich statt dem ewigen Gerede von Zerstörung und Revolution. Ein neues Innovationsbild sollte ohne Gewaltakte auskommen. Wer nicht mitmacht, verliert? Wer zu spät kommt, hat Pech gehabt? Das ist von Gestern. Erwachsene, mündige Bürger entscheiden sich selbständig für und gegen Neues.
Sie entscheiden, welche Veränderung sie annehmen möchten. Das Neue soll nicht schocken, sondern überzeugen. Auch das gehört zu einer Innovationskultur, die in die Wissensgesellschaft passt: Die Freiheit, bei dem bleiben zu dürfen, was man hat.
Das wird nicht einfach werden. Denn wir erleben eine Kultur der Ohnmacht, die uns angesichts der vermeintlich so schnellen Veränderung erfasst. Vielleicht ist dieser Zukunftsschock, wie Alvin Toffler das Phänomen vor mittlerweile fast fünf Jahrzehnten nannte, nichts weiter als die Folge des falschen kulturellen Werkzeugs. Organisationen, Methoden und Denkarten, die im 19. Jahrhundert entstanden, als die Industrielle Revolution triumphierte, sind im 21. Jahrhundert überholt. Was hingegen immer noch aussteht, seit ebenso langer Zeit, ist die Anwendung eines Universalwerkzeugs zur Erschließung von Neuem und Unbekannten, der “Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen”. Immanuel Kants Zauberformel der Aufklärung hilft auch in die Wissensgesellschaft. Der Ausgang aus der Unmündigkeit heißt immer: Was kannst du selbst tun? Und ist es so, wie es ist, richtig? Man denkt darüber nach, wie es anders gehen könnte. Der Rest, so viel Zutrauen ist dann berechtigt, ergibt sich. Eigensinn schafft Innovation.
Was aber ist Innovation noch?
Innovation ist, in einem Satz, der berechtigte Anlass für die Hoffnung, dass es besser wird. Der Beweis, dass die Zukunft existiert. Dass es einen Fortschritt gibt, eine Perspektive. Innovationen sind damit ein Kind der Moderne, der menschlichen Emanzipation von einem schicksalhaften Glauben an höhere Mächte. Mit der Innovation, die oft gleichbedeutend mit einer Erleichterung de Alltags einhergeht, erobern wir uns Stück für Stück das Paradies zurück, aus dem wir einst vertrieben wurden – weil Adam und Eva eine lächerlich kleine, aber selbständige Entscheidung trafen. Seither wissen wir uns immer besser zu helfen. Die Fähigkeit, die Welt, so wie sie ist, zu verbessern und vieles in ihr “neu zu erfinden”, ist eine zentrale kulturelle Leistung, vielleicht die wichtigste von allen. Innovation – und der hinter ihr steckende unruhige Geist der Veränderung – kämpft sich gegen das Schicksal nach vorne, zum Licht hin. Dies darf man ganz ohne falsches Pathos verstehen. Diese “Erleuchtung”, so der gleichberechtigte Sinn des englischen Wortes für Aufklärung, “Enlightenment”, lässt uns besser sehen, wohin wir wollen könnten. Sie ermöglicht uns Durchblicke, die sonst verwehrt bleiben.
Das ist Fortschritt. Mehr nicht. Und das ist alles.